Entdeckung zum 100. Todestag von Franz Kafka: "Eine kleine Frau"

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Das Ballett bildet. Manchmal. Na ja, häufig.

Dort ist mir die kleine Frau zum ersten Mal begegnet. Und auch wenn ich ein Faible für Handlungsballette habe, packte mich die Nicht-Handlung der kleinen Frau.

Neshama Nashman, selbst Tänzerin an der Oper am Rhein, hatte sie 2023 für „Shortcuts“ fein choreografiert. Da ich zwar „Die Verwandlung“ und „Der Prozess“, nicht aber „Eine kleine Frau“ kannte, griff ich zu Kafkas Kurzgeschichte.

Die Handlung der kleinen Frau

Die Handlung der kleinen Frau

Sie entstand zwischen November 1923 und Januar 1924 – wenige Monate vor dem Tod des Schriftstellers – und erschien postum im August 1924 im Band „Der Hungerkünstler“. Die Handlung ist schnell zusammengefasst. Es passiert: nichts. Ein Erzähler beklagt sich in einem manischen Monolog über eine kleine unzufriedene Frau.

Wer aber ist sie? Schlank und flink, aber weder schön noch reich noch nett. Der Autor beschreibt sie so: „Trotzdem sie geschnürt ist, ist sie doch leicht beweglich, sie übertreibt freilich diese Beweglichkeit, gern hält sie die Hände in den Hüften und wendet den Oberkörper mit einem Wurf überraschend schnell seitlich.“

Die Frage nach der kleinen Frau

Die Frage nach der kleinen Frau

In den verschachtelten, gewundenen und abgehackten Sätzen wird erzählt: Die kleine Frau ist lästig, unruhig, geradezu hysterisch, feindselig, ja wütend und vor allem ständig unzufrieden mit dem Erzählenden: „… immer hat sie etwas an mir auszusetzen, immer geschieht ihr Unrecht von mir, ich ärgere sie auf Schritt und Tritt; wenn man das Leben in allerkleinste Teile teilen und jedes Teilchen gesondert beurteilen könnte, wäre gewiss jedes Teilchen meines Lebens für sie ein Ärgernis.“

Franz Kafka starb am 3. Juni 1924. Foto: dpa

Die Deutung der kleinen Frau

Die Deutung der kleinen Frau

Je mehr Sätze dieser Kurzgeschichte man verschlingt, desto stärker drängt sich die Frage auf: War diese nervige kleine Frau eine reale Person aus dem Leben des Autors, steht sie für seine Angst vor Frauen, oder ist sie eine Teil-Persönlichkeit eines paranoiden Erzählers?

Natürlich gibt es darauf keine Antwort. Man surft auf einer Welle der Vieldeutigkeit. Ist ja Kafka. Viel ist über diese wirklich sehr kleine Geschichte geschrieben worden. Psychoanalytiker enträtseln die Frau bisweilen als Kafkas Frauen-Problem, das bedrohliche Weibliche.

Nun hat Kafka viel Düsteres geschrieben, das von inneren Dämonen und von gesellschaftlichen Zwängen erzählt. „Die kleine Frau“ stammt indes ausgerechnet aus einer Zeit, da der von der Tuberkulose gezeichnete Kafka seine letzte große Liebe mit Dora Diamant erlebte. Sie ist aber sehr sicher nicht diese kleine Frau. Das wäre unpassend.

Die kleine Frau als Allegorie

Die kleine Frau als Allegorie

Manche munkeln, Kafka habe damit seine nervige Vermieterin gemeint. Das wäre profan. Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, dass es eine Frau ist. Für Kafka mag es eine Frau sein. Für mich ist sie der Kritikaster im Kopf. Eine Allegorie für Perfektionismus; das Über-Ich, würden es die Freudianer wohl nennen.

Ich bin mir sicher, dass fast jede und jeder die kleine Frau oder auch einen ihrer Verwandten schon getroffen hat. Sie sind alle vom gleichen Schlag: setzen unter Druck, stellen überhöhte Ansprüche, nörgeln, nisten sich in den Gedanken ein, ärgern sich, leiden. Seit jenem Abend begegne ich der kleinen Frau nicht nur im Ballett.

Stefan Lehmann

Ich bin Stefan, ein Journalist von der Webseite Uslar Hier, einer nationalen Zeitung für das Zeitgeschehen. Ich liefere die neuesten Nachrichten mit strenger Objektivität und decke eine Vielzahl von Themen ab. Meine Artikel sind gut recherchiert und informieren die Leser über wichtige Ereignisse in der Welt. Meine Leidenschaft für den Journalismus und mein Streben nach Wahrheit spiegeln sich in meiner Arbeit wider, während ich stets daran arbeite, die Leser bestmöglich zu informieren.

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